3. Mai 2009

'Finanzkrise als Chance' - Muhammad Yunus im Interview

Tokio – Das weltweite Wirtschafts- und Finanzdebakel hält nach Ansicht des international gefeierten Mikrokredit-Gurus Muhammad Yunus die wichtige Botschaft parat, dass das auf Habsucht beruhende Weltwirtschaftsystem vollständig umzukrempeln ist.

Dass die Finanzkrise derzeit die Medienberichterstattung beherrsche, heiße nicht, dass es nicht andere globale Herausforderungen gebe, sagte der Gründer der renommierten Grameen-Bank, die weltweit Millionen Arme mit Kleinstkrediten versorgt, in einem IPS-Exklusivinterview. Die Ernährungs-, Erdöl- und Klimakrisen hielten ihre Köpfe gesenkt und würden bei nächster Gelegenheit wieder zuschlagen.

Nach Ansicht des Finanzexperten, der mit seinem Mikrokreditkonzept vorwiegend Frauen aus der Armut half, haben die Krisen gleiche Wurzeln. "Sie alle gründen auf Strukturfehlern, die es dringend anzugehen gilt." Yunus zufolge ist es Aufgabe der Gruppe der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G-20), der Vereinten Nationen, der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF), den Schlammassel zu beseitigen, den die Armen der Welt derzeit auszubaden hätten.

IPS: Sehen Sie Möglichkeiten, ein System zu reparieren, das nicht gut für alle läuft?
Muhammad Yunus: Die Krise eröffnet Möglichkeiten. Wenn die Dinge richtig oder mittelprächtig laufen, will keiner aktiv werden. Jetzt, wo nichts mehr funktioniert, sind alle bestürzt und besorgt. Der Zeitpunkt ist somit gut gewählt, um Dinge anzugehen, die wir für unantastbar hielten. Wir müssen uns auf diese Chance einlassen und unsere Kräfte und Gedanken bündeln, um diese Gelegenheit zu ergreifen und sinnvoll zu nutzen. Wir wollen diese große historische Gelegenheit der Menschen nicht verpassen.

IPS: Wie nahm die Krise Ihrer Meinung nach ihren Anfang?
Muhammad Yunus: Diese Krise wurde nicht von uns geschaffen. Sie wurde von einer kleinen Zahl von Menschen in einem Land (den USA) losgetreten. Wenn nur eine kleine Gruppe von Leuten ein solches Unheil über die Menschen bringen kann, dann gilt es genau hinzusehen und eine Lektion zu lernen. Sie haben die Festungen unseres Systems erschüttert und großes Leid über viele Menschen gebracht. Der moderne Kapitalismus ist unausgegoren.

IPS: Was ist mit den Reichen, die auch von der Wirtschaftskrise betroffen sind?
Muhammad Yunus: Diejenigen, die Milliarden US-Dollar verlieren werden, sind natürlich beunruhigt. Doch wenn es soweit ist, bleiben ihnen noch immer Milliarden Dollar, so wie auch für die Millionäre noch immer Millionen Dollar übrig bleiben werden. Ihr Lebensstil wird sich nicht verändern. Die wirklichen Opfer sind die drei Milliarden Menschen am unteren Ende, die in keiner Weise zur Krise beigetragen haben. Sie werden ihre Jobs, ihre Einkommen und ihre Nahrung verlieren. Und es wird noch schlimmer kommen. Sie sind Opfer eines Bankensystems geworden, das wir dringend ändern müssen.

IPS: Werden die finanziellen Rettungsaktionen helfen?
Muhammad Yunus: Wir sprechen von Rettungsaktionen, die die Wirtschaftsmaschinerie am Laufen halten. Doch niemand spricht über die Hälfte der Menschheit am unteren Ende der Einkommensskala. Ist es nicht möglich, mindestens zehn Prozent der Konjunkturhilfen in die Opfer zu investieren? Über diese Sache können wir einfach nicht hinweggehen. Und ich betone: Wir werden nicht zur alten und gewohnten Normalität zurückfinden. Normal sollte künftig heißen, dass wir eine neue Richtung einschlagen und eine Rettungsaktion für die Opfer starten.

IPS: In wieweit betrifft die Krise die Mikrokredite der Grameen-Bank?
Muhammad Yunus: Wir sind von der Finanzkrise nicht betroffen. Große Banken sind ins Trudeln geraten, wir nicht. Derzeit haben wir acht Millionen Kreditnehmer, die jeden Monat insgesamt 100 Millionen Dollar bei uns aufnehmen und 99 Prozent der Kredite zurückzahlen. Unser Modell funktioniert überall, auch in den Industriestaaten. In New York City vergibt Grameen America Kredite an Frauen.
Darüber hinaus sind wir mit China und Indien im Gespräch. Es gibt in China viele Arbeitsmigranten, die ihre Arbeit verlieren. Peking hat ein großes Interesse an Social-Business-Projekten, und Indien sitzt bereits in den Startlöchern.

IPS: Wie würden Sie das Finanzsystem ändern?
Muhammad Yunus: Ich schlage vor, das Finanzsystem völlig umzukrempeln. Es funktionierte für große Konzerne und reiche Leute, nicht aber für zwei Drittel der Weltbevölkerung, die ausgeschlossen blieben. (…) Das Finanzsystem sollte auf null heruntergefahren werden und keine wirtschaftlichen Luftschlösser mehr bauen, die die Probleme verursacht haben. Das heutige Losungswort heißt Profit. Wir sind Menschen, keine Diebe. Derzeit basiert das Geschäft auf der Selbstsucht, die die Krise verursacht hat.
Das neue System sollte zwei Drittel der Welt einbeziehen. Selbst in den USA haben die meisten Menschen keinen Zugang zu Krediten. Sie müssen sich an Kredithaie wenden, die ihnen Wucherzinsen in Höhe von 100 bis 500 Prozent abverlangen. Hier versagt das aktuelle Banksystem. Jeder Mensch sollte ein Darlehen aufnehmen dürfen. Grameen fördert auch Bettler, wenn sie in Obst und Bonbons für den Weiterverkauf investieren. - Catherine Makino | Deutsche Bearbeitung: Karina Böckmann (TD240309) | IPS EUROPA

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